DOPPELPUNKT April 2021
Lieber Brieffreund. Wusstest Du eigentlich, dass die Piazza San Marco in Ve- nedig jeden Morgen mit ein- fachen Reisigbesen gekehrt wird? Dass Venedig beim Versinken leicht nach Osten kippt? Und dass auf einen Bürger Venedigs 600 Touris- ten kommen? Ich wusste es nicht - aber all das erfährt man, wenn man sich ent- schließt, um fünf Uhr mor- gens aufzustehen und einen Spaziergang durch das fast menschenleere Venedig zu machen. Mir erzählte das alles eine eher streng wir- kende Kaffeehausbesitzerin am Rande des Fischmarktes „Mercato di Rialto“ beim Genuss meines ersten Es- pressos an diesem Tag. Da es sehr früh am Morgen war und Guistina noch nicht all- zu viel zu tun hatte, plauder- te sie mich an. * * * Leo Fellinger hat ein Rei- setagebuch geschrieben. Obwohl, genau betrachtet, stimmt das nicht ganz. Sa- gen wir so: Leo Fellinger hat während seiner vielen Rei- sen immer wieder Briefe ge- schrieben. Ganz altmodisch, mit der Hand, auf Papier. Geschickt hat er diese Briefe an sich selbst. Und weil der Tausendsassa aus Seekirchen jetzt ein bisserl Zeit hatte, hat er diesen Schriftverkehr ge- sichtet, geordnet und für ein Buch gesammelt. Das ist jetzt fertig, trägt den Titel „Ich ist der andere“ und enthält nicht nur 18 lesenwerte Geschich- ten, sondern auch viele Fotos die auf diesen Reisen entstan- den sind. Wer jetzt ein buntes Bilderbuch mit klugen Tex- ten dazwischen erwartet, der liegt falsch. Denn Leo Fellin- ger hat sich für schwarzweiss entschieden. Die Bilder be- kommen damit eine Aussage- kraft, wie sie in unserer schil- lernden und schreienden Welt selten geworden ist. Und weil es Leo Fellinger bei seinen Reisen stets weniger um das Ziel als vielmehr um das Rei- sen selbst geht, erinnert das Buch an die Kultur des Road- movies. Halt ohne bewegte Bilder und nicht als Film, sondern ein Kilo schwer, ganz aus Papier und Drucker- schwärze. Leo Fellinger: Natürlich sind Geschichten über das Unter- wegssein nichts Neues. Sie reichen bis in die Antike zu- rück, bis zu Homers Odyssee. Und mit seiner Feststellung, dass man nicht reise um anzu- kommen, sondern um zu rei- sen, nahm bereits Goethe die Geisteshaltung des Road Mo- vies vorweg. Für die Protago- nisten der Road Movies wird die Reise in die Fremde näm- lich meist auch eine Reise zu sich selbst. Sie müssen Din- ge für sich klären und stürzen sich deshalb ins Unbekann- te, wo sie sich eigenen Ge- fühlen eher stellen müssen als in der vertrauten Umgebung der Heimat. Die Bewegung, die Reise durch reale Schau- plätze taugt zur Veranschau- sondern auch von der Duali- tät, manchmal vielleicht sogar Pluralität der eigenen Persön- lichkeit. * * * Und jetzt noch kurz ein Blick in die Zukunft: Sollte es mög- lich sein, wird es am 24. Ap- ril im Emailwerk Seekirchen die Präsentation des Buches mit einer Ausstellung der Bil- der geben. „Roadmovie” aus Papier und Druckerschwärze lichung der emotionalen und intellektuellen, kurz der „See- len-” Landschaften der Prota- gonisten, in diesem Falle des Autors. Was haben Sie empfunden, als Sie nach vielen Jahren wieder Ihre Briefe gelesen haben? Leo Fellinger: Diese Briefe die ich damals verfasst habe, sind essayhafte Aufsätze, die sich heute für mich lesen, als hätte sie ein Fremder geschrie- ben. Ein Anderer. Der Andere. Den Briefen, die nichts ande- res sind als Bilder im Kopf, habe ich die Bilder aus mei- ner Kamera hinzugefügt. Das mag nicht immer ein stimmi- ges Gesamtbild ergeben, doch auch die Diskrepanz zwischen erlebter, erdachter und festge- haltener Wirklichkeit ist ein wesentlicher Teil unseres Le- bens, so es Wirklichkeit an sich überhaupt gibt. In diesem Sinne handelt dieses Buch nicht nur von Reisen, April 2021
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