VOLLMOND 2-2002

KURZGESCHICHTE aus dem Mondseeland S chon zehn vor sechs! Ich muss noch ganz schnell zu Monika in den Bioladen, um grünen Salat und Hirse zu besorgen. Für heute Abend um acht habe ich Mar- garethe und Toni eingeladen, die stehen auf Bio-Essen aus der Region. Da darf nichts schief gehen, denn ihre Zwillinge, David und Samuel, sind meine Schüler. „Jetzt in den Ferien sind sie bei der Oma“, hat mir Margarethe erzählt. Da hätten sie und Toni Zeit für einen geselligen Abend mit Freun- den. Margarethe ist als Gesundheitsdozentin über die Grenzen unseres Ortes hinaus berühmt: kein Fleisch, keine Milchpro- dukte, kein Zucker, niemals Fertigprodukte, statt dessen Ge- treide in allen Aggregatzuständen und Rohkost in sämtlichen Farben. Mac Donalds ist ihr Lieblingsfeind. Wenn Margarethe von den schädlichen Langzeitfolgen der durch unsere Zivili- sationskost verursachten Mangelernährung referiert, nickt Toni ernst und isst hingebungsvoll alles, was man ihm vorsetzt. Das tut er allerdings auch dann, wenn er mit meinem Mann abends zum Holzer-Wirt geht, der als besondere (und einzige) Spezia- lität des Hauses eine heimische Schlachtplatte vom Schwein mit dazugehörigem Obstler anbietet. Ich stelle meinen Wagen in der Eile etwas zu schräg am Stra- ßenrand gegenüber dem Bioladen ab und stürze hektisch ins Geschäft. Hier riecht es immer wie in einem vegetarischen Schlaraffenland: frisch, pflanzlich und gesund. „Hi Claudia“, begrüßt mich Monika strahlend. An der Käsetheke steht eine Dame, eingepackt in einen naturreinen Lodenmantel und be- deckt mit einem großen grünen Filzhut samt seitlich wippender Fasanenfeder. Sonst ist niemand mehr im Laden. Da komme ich gleich dran, stelle ich beruhigt fest. Ich schnappe mir aus der Gemüsekühlung einen frischen Kopf Eichblattsalat. Ein Kilo inländische Goldhirse fällt wie von selbst aus dem blank gescheuerten Vollholzregal in meinen ungeduldigen Arm, und schon stehe ich an der Kasse, gleich neben der Käsetheke. „Was darf ich Ihnen denn sonst noch Gutes einpacken, Frau Bauernfeind?“, lächelt Monika die Dame vor mir an. „Ist der Roquefort frisch?“ Frau Bauernfeind wirft einen prü- fenden Blick über den Rand ihrer goldenen Gleitsichtbrille auf den edlen Käse. „Heute frisch angeschnitten, Frau Bauernfeind“, lächelt Mo- nika. „Dann geben Sie mir doch fünf Dekagramm, aber packen Sie ihn gut ein.“ Monika nickt freundlich: „Gerne, Frau Bauernfeind.“ Lächelnd lässt sie vorsichtig und ganz langsam das schmale Weichkäsemesser in den Roquefort gleiten. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Vor meinem inne- ren Auge schweben Birnen und Walnüsse mit Vogerlsalat zum Roquefort auf den Teller. „Aber Käse verstopft die Arterien“, erklärt Margarethe immer, und deshalb gibt es heute Abend bei mir Gemüsesuppe mit Dinkelnudeln und dann Hirseauflauf - ohne Ei, denn Eier erhöhen ja den Cholesterinspiegel. Ich sehe auf die Uhr und räuspere mich scheu. Es ist fünf vor sechs und ich spüre kleine ungeduldige Bläschen in mir hoch steigen. Frau Bauernfeind nimmt würdevoll den Roquefort in Emp- fang und lässt suchend ihre Augen durch die Scheibe der appe- titlichen Käsetheke wandern. Ihr Einkaufskorb ist bereits prop- Von Verena GRABENHOFER 38 VOLLMOND 2/2020

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