VOLLMOND 3-2018
Juni 2018 SAGE AUS DEM MONDSEELAND an weiß nicht, woher es so plötz- lich kommt! Es ist ein- fach da, das W u n d e r - brünnlein von Wartenfels mit- ten im starren Felsen der Scho- berwand. In einem ganz feinen, zart zerstäubenden Wasser- strahl steigt es empor und fällt mit seinen goldenen Körnern gleich einer verführerischen Glockenmelodie wieder zurück in die Steinschale. Einst soll in der Zeit der Rau- nächte, als alle Spinnarbeiten in den Stuben der Bauern erle- digt waren, die Göttin Berchta mit ihrem aufgelösten, langen, wellenden und hellglänzen- den Kopfhaar über alle Berge zurück in ihre fernher leuch- tende Heimat am Firmament gegangen sein. Meist wanderte sie dabei als tief verschleier- te Frau im Abenddunkel nach dem Gebetläuten über Bäche, Büsche und Waldwege. Als sie in die Gegend der Ruine Wartenfels kam, hing der Ster- nenmantel der Nacht so tief über den Schober herab, dass er beinahe den Gipfel streif- te. Berchta freute sich, denn schöner als alle anderen war ihr eigener Stern, der bläulich schimmernd, wie ein winken- des Auge am Himmel strahlte. An dem silbernen Lichtstrahl dieses Sternes tastete sie sich heimwärts, denn gerade über den Schober zur Drachenwand war der Weg mühsam und be- schwerlich. Doch plötzlich zog sich der Himmel düster zu, ein böser Wind fauchte um die vor ihr liegenden Felskanten und, wie sooft in der Gegend von Thalgauegg, fiel der Nebel ein. Unversehens kam der weiße, tückische Feind aus dem wei- ten Tal herauf gekrochen und griff gierig nach den Schultern der blonden Frau. Immer hö- her stieg er empor und immer dichter zog er seine Kreise. Das Licht der Sterne erlosch und auch der Stern der Göttin wur- de blasser und blasser, bis er im Nebelmeer versank. Schließ- lich fand Berchta den Weg in ihre fernher leuchtende Heimat am Himmel nicht mehr. Sie hielt am Abhang des Schobers inne im Schreiten und ließ sich hilflos nieder. Dicht umgarnte sie der Nebel und ihr schweres Blondhaar wurde dabei ganz feucht. Da bedachte sie zum ersten Mal ihr Geschick und auch das Schicksal all der an- deren strahlenden Götter. „Wir werden vergehen“ sagte sie leise vor sich hin. „Wir werden vergehen und ganz vergessen sein. Denn Träume sind wir und ins Reich der Träume kehren wir wieder zurück.“ In der tie- fen Betrübnis ihrer Einsamkeit begann Berchta lautlos zu wei- nen. Ihre Tränen flossen über das goldene Haar und drangen dann durch das Gestein des Schobers, das sie auffing und treu bewahrte. Im fahlen Mor- gengrauen wich der nassfeuch- te Nebel, die Göttin Berchta war jedoch verschwunden. Dort aber, wo sie ausgeruht und Stunden gramvoller Schwermut erlebt hatte, tönte es plötzlich golden in den beginnenden Tag hinein. Aus ihren Tränen waren die Goldkörner des Wunder- brünnleins entstanden und er- zeugten durch das Herabfallen auf den Felsen die Klänge einer süßen und bezaubernden Glo- ckenmelodie. Bis zur Gegen- wart klingt das Brünnlein noch immer in dieser einen Nacht um die Weihnachtszeit und strahlt der blaue Stern der Göttin über dem Schober, um dem Suchen- den den Weg zum Schatz zu weisen. Die Geschichte und der Ruf vom unermesslichen Reichtum des Goldbrünnleins von Wartenfels drangen jedoch nicht nur bis in die hintersten Täler und Gegenden des Lan- des, sondern die Kunde der wundersamen Quelle wurde sogar im Vorderen Orient ver- nommen und in vielfachen Er- zählungen verbreitet. Infos zur Sage Rund um das Wartenfelser Goldbrünnlein gibt es viele Erzählungen. Über die Entste- hung gibt es jedoch nur die völ- lig unbekannte Geschichte von der Göttin Berchta, gesammelt von Bernhard Iglhauser. Sagenquelle: Bernhard Iglhauser
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