Ein Stückerl Draht als Antwort auf alle Fragen des praktischen Lebens

Mein Opa sagte immer: „Reparieren wir es gleich ordentlich. Nehmen wir einen Draht“. Tatsächlich hatte Opa immer ein Stückerl Draht eingeschoben, er war auch recht geschickt im Umgang damit und es gab kaum etwas, das er mit seinem Draht nicht reparieren konnte. Wobei man jetzt schon sagen muss, dass manche dieser Lösungen zwar eher patschert aussahen, aber trotzdem zu jenen Provisorien wurden, die dann ewig hielten.

Vom Können professioneller Drahtbinder war mein Opa natürlich meilenweit entfernt. Aber ich bin überzeugt, dass ihm das, was im Schloss Budatinksy zamok zu sehen ist, gut gefallen und ihn darin bestärken würde, dass ein Stückerl Draht die Antwort auf alle Fragen des praktischen Lebens sein kann.

Das Museum im Schloss Budatinksy zamok in der norwestslowakischen Stadt Zilina ist die weltweit größte Ausstellung über das Drahtbinder- und Kesselflickerhandwerk. Wenn hier auch alles aus Draht ist, mit Opas Reparaturen hat das nichts zu tun. Weil es sind echte Kunstwerke, die im Schloss zu sehen sind. Krokodile und Bären, Hunde und Hähne. Dazu alle Arten von Alltagsgegenstände wie Teller oder Bücherregale, Topfuntersätze, Suppenkellen oder Vogelkäfige. Auch wertvolle Schmuckstücke finden sich. Kelche und Raucherutensilien, zum Beispiel, geflochten aus beinahe haardünnen Golddrähten. Bei vielen Ausstellungsstücken musst zweimal hinschauen, bis du wirklich glaubst, dass die aus Draht sind. Gebogen von feinen Zangen, die von geschickten Fingern geführt wurden.

Manche Ausstellungstücke haben 100 oder mehr Jahre auf dem Buckel. Aber egal wie alt die Dinge sind, eines haben sie gemeinsam: sie stammen aus der Region. Hier in der Westslowakei entstand das Handwerk der Drahtbinder und Kesselflicker vor rund 500 Jahren aus der Not heraus. Die Bauern lebten unter der Knechtschaft ungarischer Feudalherren mehr schlecht als recht. Die Böden entlang der kleinen Frata waren karg und brachten kaum Erträge. Um zu überleben, musste ein Zubrot gefunden werden und um notwendige Reparaturen auszuführen, war viel Improvisationstalent notwendig. Und weil auch damals schon der Draht ein billiges und äußerst vielseitiges Hilfsmittel war, entwickelte sich die Drahtbinderei. Wahrscheinlich waren es zunächst nur einfache Küchengeräte wie Körbe oder Schöpfer die auf diese Weise entstanden. Sie aber gaben den Ausschlag, dass sich vor allem junge Männer näher mit dieser Arbeitsweise beschäftigten und so zu wahren Künstlern dieses Handwerks wurden. Da war es nur ein logischer Schritt, dass sie mit Draht, Hammer, Zange und Nieten loszogen, um ihre Dienste im ganzen Land anzubieten.

Bis ins 19. Jahrhundert waren diese freien Handwerker meistens alleine oder höchsten zu zweit mit einem Lehrling unterwegs. Längst waren die Drahtbinder und Kesselflicker aus der kleine Frata im ganzen Land bekannt und wo immer sie auftauchten, wartete viel Arbeit auf sie. Diese rege Nachfrage führte schließlich dazu, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Fabriken gegründet wurden. Diese Manufakturen produzierten für den großen Markt und die wandernden Handwerker wurden immer weniger. Der Zweite Weltkrieg brachte schließlich auch das Ende des Drahtbinder- und Kesselflickerhandwerks in der seit Jahrhunderten betriebenen Form.

Heute sind Drahtbinder hin und wieder noch auf Kunsthandwerksmärkten anzutreffen und sie bieten in erster Linie geflochtene Körbe in allen Größen an. So ein Obstkorb steht auch bei uns auf dem Tisch. Feine Maschen, kunstvoll verarbeitet. Und sollte dieser Korb einmal nicht mehr ganz so perfekt sein, werde ich ihn reparieren. Und zwar gleich ordentlich, mit einem Draht. So wie ich es von Opa gelernt habe … -6. Mai 2025-

Rupert Lenzenweger

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Und noch ein wildes Tier: Elefant, allerdings in Miniatur.
Röhrender Hirsch und schlauer Fuchs.
Feines Raucherset, hergestellt aus beinahe haardünnen Golddrähten.
Kunstvolle Teller in jeder Form und Ausführung.