

Oktober
KURZGESCHICHTEN
K
annst dich noch
erinnern?
Es
hat Zeiten ge-
geben, da hatte
der Niki Lau-
da eine eigene Fluglinie. Die
hieß Lauda-Air. Die Öster-
reicher sind gerne mit diesen
Fliegern geflogen. Meist in
den Urlaub oder zu sonstigen
erfreulichen Anlässen. Weil
die Österreicher sind zum ei-
nen halt Patrioten. Und wenn
schon einer von ihnen eine
eigene Fluglinie hat, dann
fliegen wir auch damit. Zum
anderen servierte der Lauda
das beste Essen, das es über
5.000 Meter gab. Sagten
halt die, die mit dem Lauda
geflogen sind. Heute wäre
das undenkbar, dass jemand
mit einer bestimmten Flugli-
nie wegen des guten Essens
fliegen würde. Ginge aber
auch nicht mehr. Weil längst
überall der gleiche Fraß in
den einschweißten Sackerln.
Bröseliges Weißbrot, harter
Schinken, zacher Kas und
vertrocknete Tomaten. Aus.
Wenn überhaupt. Dazu Toma-
tensaft und wennst ein Bier
willst, musst schon draufzah-
len. Was im Flieger gar nicht
so einfach ist. Weil die Sitz-
bänke sind eng und wennst
das Geld aus der Hosentasche
fingerln willst, musst dich zu-
mindest auf den Gang stellen.
Und wenn sich dann mehr
Leute ein Bier kaufen wol-
len. Ziemliches Gedränge auf
dem Gang. Sag ich dir. Und
wie soll dann die Stewardess
mit dem Wagerl durch? Im
Wagerl ist aber das Bier. Also
nichts als Probleme. Deshalb
greifen alle dankbar zu dem
kleinen Becher Tomatensaft,
den sie am Boden nicht ein-
mal anschauen würden. Aber
egal.
Das freilich hat der Sepp
Vorderroider alles nicht ge-
wusst, als er zum ersten Mal
geflogen ist. Das war mit den
Mondseer Pfitschigoglern zu
einem internationalen Turnier
E
s war an einem herr-
lichen Sommertag
des Jahres 1939. Ich
verbrachte meine
ersten großen Schulferien bei
den Großeltern in Franken,
der Heimat meines Vaters.
Selbst zählte ich gerade sie-
ben Jahre, als ich eines Tages
das Gänseliesel vom Dienst
war und mit Rudi, dem Nach-
barsjungen, dreizehn grau-
gesprenkelte Schnattergänse
hütete. Der blonde Locken-
kopf Rudi war knapp drei
Jahre älter als ich und allzeit
zu Späßen aufgelegt. Ich muß
gestehen, ich fand ihn toll
und ließ mich leicht von ihm
auf den Arm nehmen. Der
Schlingel wiederum tat das
nur allzu gerne, denn ich war
sehr ängstlich, und das nicht
nur im Umgang mit angriffs-
lustigen Gantern; schließlich
hatte ein solcher schon ein-
mal meinen Zopf erwischt.
Ich habe ihn zwar wiederbe-
kommen, ein beträchtliches
Büschel Haare jedoch habe
ich lassen müssen!
Seither ließ „Rudirallala“,
wie ich ihn nannte, keine Ge-
legenheit aus, mich zu ner-
ven.
„Olles noch dro, Bowed-
la?“ Was auf Hochdeutsch
heißt: „Alles noch dran, Ba-
bettchen?“
Na, dem wollte ich’s zei-
gen! Erstens, daß ich auch
anders konnte und beileibe
nicht das Angsthäschen aus
der Stadt war; zweitens zwar
Thüringerin war, aber nie und
nimmer „a Schnapspreiß“
(ein Schnapspreuße)!
Aus diesem Grunde machte
ich mich mit Rudi auf die So-
cken, als er „sei Wiewelich“
(seine Gänseschar) aus der
Toreinfahrt trieb. „Muß heit
Gäns hütn. Traust dersch un
gest miet?“
Und ob ich mich traute!
Wenn mir auch insgeheim
schier die Haare zu Berge
standen, da sie jedoch in Zöp-
fe geflochten waren, blieb
das allein mein Geheimnis.
So versuchte ich also tapfer,
mit einer Weidenrute die laut
schnatternde Gesellschaft in
Schach zu halten. Zugegeben,
das war nicht schwer, denn
die Gänse wußten genau, wo’s
langgeht und folgten „Rudiral-
lala“ auf dem Fuße, Barfuße
genauer gesagt. Damit meine
ich nicht nur das Federvieh.
Dies folgte fröhlich trom-
petend und flügelschlagend
unbeirrt seinem unablässi-
gen „Wieh, wieh, wiehelaha,
wieh, wieh, wiehelaa!“, dem
Schlacht-, pardon, Lockruf al-
ler Gänsehirten, einem auf und
abschwingenden, sich ewig
wiederholenden Singsang.
Endlich waren wir am
„Lochranger“ angekommen.
Das Getreide war eingefahren
und auf den Stoppeln lagen
noch reichlich Ähren, die dem
Rechen entgangen waren. Al-
les in allem so recht ein Ort
zum Gänsehüten, die davon
bis Sankt Martin schön dick
und rund werden würden. Das
Hüten aber war Sache der
Jüngsten im Dorf, der Kinder
also. Sie mußten schon recht
früh mit zupacken, und das
war noch eine der leichtesten
Übungen damals. Warum soll-
te das ein Stadtkind nicht auch
können?
Vor den Erfolg aber hatte
mein gestrenger „Herr und
Meister“ eine harte Probe ge-
setzt. Wie üblich, mußte auch
ich nun barfüßig über die
Stoppeln „hoppeln“. Auweia,
meine zarten Fußsohlen, wie
sie brannten und der Schmerz
mir die Tränen in die Augen
trieb!
Dennoch, ich trieb manch
widerspenstiges Gänschen
zurück auf den rechten Weg
oder verscheuchte den läs-
tigen Hühnergeier, der beu-
tegierig und mit gräßlichem
Gekreische hoch über uns
seine Kreise zog. Zu dumm,
daß die ansonsten so schlau-
en Viecher immer wieder aus
dem Schutz der großen Eiche
watschelten. Kein Wunder,
daß der Räuber der Lüfte
nicht aufgab und wir gleich-
falls unsere Aufgabe hatten!
Im Unterschied zu Rudiral-
lala aber hatte ich am Ende
ziemlich zerfetzte Fußsohlen
und Blasen an den Zehen. Es
war und blieb mir schleier-
haft, wieso der Lausbub so
flink und frei über die Stop-
peln sprang und nicht ein biß-
chen von ihnen gepiekst wur-
de. Nie und nimmer konnte
das mit rechten Dingen zuge-
hen, meint ihr nicht auch?
Rudi aber lachte mir nur
ins Gesicht.
„Herrschaftseiten, machst
du a Gscheiß! A jed’s Kindla
bei uns koo’s schoo!“
Leicht verstört sah er sich
die Bescherung an und mur-
melte etwas kleinlaut: „Dacht
i mersch doch glei, für Stodt-
leit is fei nix. Am wengsten
für kleena Mädlich!“
Haste da noch Töne?
Ich jedenfalls hatte noch
lange an der Sache zu knab-
bern, wenn ich auch in der
Achtung unseres Nachbar-
jungen gestiegen – weil nicht
abgesprungen – war!
Gelernt hab ich allemal
daraus, denn Übung macht
den Meister und abhärten tut
sie auch.
Inzwischen gehe auch ich
– ganz ohne Schmerzen,
mit frohem Herzen – barfuß
übers Stoppelfeld.
Aus dem „Buch Hoch auf dem
Erntewagen“.
Unvergessene
Dorfgeschichten, Band 5, 1918-
1968. 256 Seiten, viele Abbil-
dungen, Ortsregister. Zeitgut
Verlag, Berlin. ISBN: 978-3-
86614-251-0. Euro 11,90.
Mit Rudi übers Stoppelfeld
Von Babette REINEKE
Ich ging schon zur Schule, a
ls
ich zum ersten Mal versuchte,
es dem Dorfbuben Rudi gleich
zu tun und barfuß übers Stop-
pelfeld zu laufen.