Verlorene Plätze als lohnende Ziele

Stellen Sie sich das einmal vor: Wenn ich mit meinen Freunden einen Radausflug mache, bin ich schon seit einiger Zeit der Einzige, der noch mit einem gewöhnlichen Fahrrad fährt. Die anderen sind alle stromunterstützt unterwegs. Das führt zwangsläufig dazu, dass ich spätestens beim ersten kleinsten Hügel bis ans Ende des Feldes durchgereicht werde. Ist die Tour noch jung, haben meine Radlerkollegen durchaus Mitleid mit mir. Sie warten nach dem Anstieg mit tröstenden Worten: „Lass dir ruhig Zeit. Wir machen ja einen Radausflug und sind nicht auf der Flucht.“ Mit jedem weiteren Hügel nimmt aber ihre Geduld ab. Und stets ist dann irgendwann der Moment da, wo ich zu hören bekomme: „Du weißt ja eh, wohin wir wollen. Wir fahren jetzt einmal voraus und warten dann am Ziel auf dich.“ Das Ziel ist meistens irgend ein Wirt.
Auch bei unserem letzten mehrtägigen Radlerausflug war es so. Wir waren in der südsteierischen Weinstraße unterwegs, deren Hügeligkeit ich schlichtweg unterschätzt habe. Und so kam es, wie es kommen musste. Meine Mitfahrer hatten stets ein oder zwei Viertel Schilchersturm Vorsprung, bis auch ich endlich verschwitzt und schnaubend bei der Buschenschank eintraf. Auf die Dauer für beide Seiten kein tragbarer Zustand. Jetzt habe ich auch ein E-Bike.
Ganz neu und mit gerade einmal 40 Kilometer auf dem Tachometer steht das Stromradl jetzt bei mir in der Garage. Ich setze mich manchmal davor und frage mich, wohin ich damit eigentlich fahren will. Weil für die übliche Sonntagsrunde um den Wallersee oder die seltenen Ausflüge über Sommerholz nach Mondsee ist das Rad eigentlich zu schade. Quasi Perlen vor die Säue werfen! Nein, so ein E-Bike schreit nach einer richtigen Tour. Tagelang Kilometer fressen und dabei die Naturgewalten erleben. Durch Hitze und Regen radeln um dann nach vielen hunderten Kilometern am Ziel das Gefühle des verwegenen Eroberers in sich spüren. Ja, genau dafür ist mein E-Bike gebaut. Das Ziel kenne ich damit schon. Was mir jetzt noch gänzlich fehlt, ist der Weg dorthin.
So einen möglichen Weg haben mir jetzt Georg Lux und Helmuth Weichselbraun gezeigt. Denn völlig unerwartet ist ihr Buch bei mir auf dem Schreibtisch gelandet. Darin machen sich die beiden auf die Suche nach „Lost Places“ in der Alpen-Adria-Region und Georg und Helmuth haben nicht weniger als 27 solcher vergessenen Plätze gefunden. Und schon nach dem ersten Durchblättern des Buches fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Einige dieser besonderen Plätze liegen genau am Alpe Adria Radweg, der über 400 Kilometer von Salzburg bis Grado führt. Also wenn das jetzt keine Herausforderung für mich und meine Stromradl wird …
Die ersten verlorenen Plätze können wir in Kärnten besuchen. Zum Beispiel den Freibacher Stausee, die kargen Überreste der Therme Bad Bleiberg oder die verschwundene Höhle am Dobratsch. Dort üben die Villacher Naturschächte auf die Höhlenforscher seit Jahrzehnten eine ganz besondere Anziehungskraft aus.
Direkt an der Grenze geht’s weiter. Der alte Bahnhof von Tarvis war viele Jahre lang Ziel von Luxuszügen aus aller Welt. Seit der Jahrtausendwende ist der Betrieb eingestellt und selbst für die Radler heißt es hier Endstation. Am Predilpass wartet der nächste verlorene Platz. Ein fünf Kilometer langer Stollen zwischen Italien und Slowenien. 1905 wurde der Kaiser-Franz-Josef-Hilfsstollen errichtet, um das Bergwerk Raibl am Predilpass zu entwässern. Aber schon zehn Jahre später wurde diese unterirdische Verbindung im Ersten Weltkrieg zu einer Hauptverkehrsader der österreichischen Soldaten.

Die erweiterten den Stollen, verlegten Schienen und brachten in der Folge auf dieser „U-Bahn“ 600.000 Soldaten der kaiserlichen Armee von Raibl auf die andere Bergseite, wo viele von ihnen an der heftig umkämpften Isonzofront ihre Leben lassen mussten. Heute ist diese Stollenanlage ein Schaubergwerk.
Dass bis 1986 die beste Stärke aus Chiozza kam und weltweit exportiert wurde, weiß heute praktisch kaum noch jemand. Mehr als 154 Jahre lang wurde hier aus Reis und später auch aus Mais die begehrte Stärke hergestellt und 150 Jahre lang hat sich an der Produktionsanlage kaum etwas veränderte. Bis zuletzt lieferte eine Dampfmaschine die für die Produktion benötigte Energie. Heute ist die Produktionsanlage eine faszinierende Industrieruine, die von einem Verein so gut wie möglich erhalten wird.
Bevor wir in Grado nach der gut 400 Kilometer langen Radltour die Füße in der Adria kühlen, empfiehlt sich noch ein Abstecher nach Prosecco. Das ist nicht nur ein Mekka der Freunde des Schaumweins, sondern war einst auch Europas Hauptstadt des Baseballsports. Amerikanische Besatzungssoldaten haben dieses Spiel hier her gebracht und auch die heimische Bevölkerung dafür begeistert. Und so wurde 1979 um 600 Millionen Lire (309.000 Euro) das Stadion errichtet und ihm wegen der inneren Form der Name „Diamante“ gegeben. Diamanten gelten zwar als unzerstörbar. Für dieses Stadion traf das nicht zu. Der Spielbetrieb wurde 2005 von der Behörde wegen sicherheitstechnischer Mängel eingestellt und seither verfällt die Anlage.
Freilich, nicht alle verlorenen Plätze liegen direkt am Alpen Adria Radweg. Und weil ich jetzt noch nicht weiß, wie groß tatsächlich meine Begeisterung für weite Touren mit dem Drahtesel sein wird, habe ich mich auch schon nach einer Alternative umgesehen. Einige weitere „Lost Places“ werde ich bei einer mehrtägigen Motorradtour mit meinem Spezi Stefan besuchen. Und wer weiß, vielleicht kommen wir dabei sogar bis in das kroatische Goli Otok, dem Georg Lux und Helmuth Weichselbraun unter dem Titel „Alcatraz in der Adria“ auch ein Kapitel gewidmet haben.
Lost Places in der Alpen-Adria-Region. Georg Lux und Helmuth Weichselbraun. Styria Verlag, 27 besondere Plätze, vorgestellt auf 208 Seiten mit vielen hervorragenden Bildern. ISBN 978-3-222-13681-8. € 27,- bei Amazon.